Brasilien, Rio de Janeiro 2016; durch die Brille von Theodor W. Adorno gesehen.

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Bild: Schmetterling, Pop Art Filter hinzugefügt; die Farben wirken echter.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Theodor W. Adorno, Minima Moralia.

„… Die Bedingungen und Kräfte, welche die moderne Welt in Wirklichkeit beherrschen, haben keinen kohärenten intellektuellen Ausdruck gefunden. Wir leben, wie so oft bemerkt wurde, in einem Zustand geteilter Lehenspflicht. Unsere äußerlichen Tätigkeiten und üblichen Vergnügungen fesseln uns an höchst weltliche Dinge, und zwar in einer Weise, die wir als niedrig und unwürdig ablehnen würden, wenn wir sie rational rechtfertigen sollten. Wir geben unsere emotionale und theoretische Zustimmung zu Prinzipien und Glaubensbekenntnissen, die eigentlich gar nicht mehr lebendig sind. Wir haben genug von der älteren Tradition zurückbehalten, um zu erkennen, daß eine Philosophie, die das formulieren würde, was uns am meisten beschäftigt, ihrem ganzen Charakter nach unerträglich materialistisch sein würde. … Wir sind außerstande zu zeigen, dass die Ideale, Werte und Bedeutungen, der wir nominell anhängen, in eine andere Welt verlagert, geeignet sind, die Welt, in der wir leben, die Welt unserer wirklichen Erfahrung, konkret mit einem gewissen Maß an Sicherheit zu charakterisieren. …“ John Dewey. Die Suche nach Gewißheit. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1998, S. 80.

Das würde ich als eine Paraphrase betrachten auf den Satz der „Minima Moralia“ Theodor W. Adornos (Abschnitt 18): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Er ist Destille des Nachdenkens über das Wohnen in der Moderne:

http://files.feedplace.de/lyrikistliebe/Adorno_MM_Asyl.mp3

Er könnte aber auch am Ende einer Betrachtung des Sportes in der Moderne stehen. Die Idee des Agon (griechisch ἀγών, „Kampf“, „Wettkampf“, „Wettstreit“) ist ein Mythos, der beschworen wird, um einem ganz anderen Kampf beiwohnen zu können, – abseits der Absprachen des Alltags – in dem der Bessere gewinnen möge.

Der betrügerische Doper ist dabei das schwarze Schaf, den es zu bekämpfen gilt, damit es sich hier zum Guten wendete. Das wäre dann das richtige Leben, der Doper wäre das falsche, welches es zu entlarven gälte. Wie so oft aber in der Moderne gibt es aus der Verstricktheit kein Entkommen. Lance Armstrong und Jan Ullrich haben es ein für allemal gezeigt: Es ist die Struktur selbst; diese braucht das Märchen eines längst vergangenen Mythos, damit der schöne Schein nicht zu erlischen droht.

Das ganze Leben aber ist das falsche, welche durch die Inszenierung des richtigen versucht, die Aporie, welche in diesem Satz sich verbirgt, einzuhegen. Genießen wir also ein Spiel, um uns zu hinwegzutrösten über eine Welt, die brüchig wird, sobald wir anfangen, Fragen zu stellen. So gesehen bringt der Satz, um den es hier geht, eine Evidenz zum Ausdruck, bei der es als unschicklich gelten kann, sie zu hinterfragen.

Genau so, wie man am Ende EINER Nacht tunlichst keine Telefonnummern austauscht.

 

 

 

 

 

Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe der Kontingenz zu lieben.

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Bild: Flughafen Hannover, Ankunftstafeln.

Timur Si Quin In ‚Intensive Science and Virtual Philosophy’ beschreiben Sie physikalische Gesetze als Fossile, eingebettet in die Philosophie der Wissenschaften. Sehen Sie, dass diese Vorstellung aktuelle wissenschaftliche Praktiken beeinflusst? Wenn ja, wie würde die Alternative aussehen?

Manuel DeLanda Das Konzept eines ewigen und unveränderlichen Gesetzes der Natur ist tatsächlich ein theologisches Fossil, ein Überbleibsel aus der Zeit, als alle Wissenschaftler tief christlich waren. Es ist wichtig, sich des Wortes, aber nicht seiner Referenten zu entledigen: die innewohnenden Muster des Seins und Werdens, die Wissenschaftler entdeckt haben. Philosophisch ist das wichtig, weil Gesetze ein Konzept der materiellen Welt annehmen, welches fügsam ist (das heißt, dass es dem Gesetz folgt) und ein  Konzept der Materie als ein passives Gefäß für Formen, die von außen kommen.  Das ist so nah an einer aristotelischen Sichtweise (das hylomorphische Schema) bis hin zu einem Kreationismus (in der ein transzendenter Gott Kommandos gibt, „es werde Licht“ und die Materie folgt), dass jeder neue Materialismus versuchen muss, das zu reparieren. Deleuze und Guattari (im Kapitel über Nomadologie) weisen auf dieses Problem hin und versuchen, diese Konzept des „passive Materie, die einem Gesetz folgt“ zu ersetzen mit dem einer aktiven Materie, die ihre eigenen Dynamiken und Fähigkeiten besitzt ( oder in ihren Begrifflichkeiten: ihre eigenen Singularitäten und Affekte). Auf der anderen Seite: der Fakt, dass wir das Konzept des Gesetzes entfernen können, während wir das objektive Wissen, durch Wissenschaftler produziert, intakt lassen, weist darauf hin, dass das Eingangskonzept eine rhetorische Rolle spielt im Diskurs der Wissenschaften, nicht eine wissenschaftliche. Deshalb beeinflusst es die wissenschaftliche Praxis kaum. …“

Der ‚Mythos’ der Moderne bestand in der Errichtung der Beschränkung universalistischer Ansprüche menschlicher Vernunft. Erkauft wurde diese Beschränkung mit der Einstellung einer Putzkraft: seit Kant wacht ein ‚transzendentales’ Subjekt eifersüchtig über die Reinlichkeit im Käfig des Denkens. Es hat die göttliche Hand mit dem Gummihandschuh der Naturgesetze versehen und weist der Kontingenz ihren Platz auf dem Hocker der empirischen Erfahrung, den ‚immanenten’ Subjekten zu.

Quentin Meillassoux brach als erster mit diesem Mythos, als Destille, die man aus „Nach der Endlichkeit“ auf Flasche ziehen kann, ist der eine Satz, mit dem sich alles zusammenfassen lässt: die eine, absolute Notwendigkeit der Gründung des Grundes ist die Notwendigkeit der Kontingenz der ‚Naturgesetze’ selbst (dabei konnte er auf eine schussfeste Kevlarweste in der Gestalt radikaler Mathematisierbarkeit von Aussagen noch nicht verzichten).

DeLanda hingegen pitcht diese Aussage weiter hoch und macht sie so zu einer Kernwaffe gegen jeden Extremismus. Er führt die Materie heraus aus ihrer passiven Rolle und spricht ihr ein Eigenleben nicht ab, es besteht in Eigendynamiken und Fähigkeiten, bei Wasser z. B. Singularitäten wie Gefrier- und Siedepunkt, aber auch in der Fähigkeit, Stoffe in Lösung bringen zu können. Die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen wird dabei nicht beschädigt, wenn man den Naturgesetzen ihren Letztbegründungsanspruch verwehrt, dieser hat vielmehr rhetorischen Charakter, der sich aus der redundanten Kausation einer historischen Individuation der Subjekte einer Wissenschaft herleiten lässt. In der tatsächlich beobachtbaren Praxis von Wissenschaftlern spielt diese Denkfigur keine Rolle, es ist keine Begründungsrhetorik nötig, um zu Ergebnissen zu gelangen, die im Alltag tragfähig sind.

Und genauso sind ‚transzendentale’ Absolutheitsansprüche religiöser Fanatiker zu beantworten: ihre Konzepte müssen für das Zusammenleben der immanenten Subjekte ihre Beweisführung in der Immanenz antreten; entlarvt man die ‚Naturgesetze’, sind damit zugleich auch Positionen entlarvt, die auf eine wie auch immer geartete Transzendenz – eines Argumentes des ‚Anzestralen’ z. B. – Bezug nehmen.

Der Verweis auf einen Gott, einen Platzhalter, hingegen ist der Glaube an Papi, der mit seiner Kreditkarte letztendlich immer alles richten wird; während jedem klar ist, dass immer einmal die Zeit kommt, an der man gezwungen wird, seine Rechnungen selbst zu begleichen: so sieht Erwachsen-Werden aus.

 

Literatur:

Manuel DeLanda im Gespräch mit Timur Si Quin. Interview, gehalten zwischen Januar und April 2012.

Quentin Meillassoux. Nach der Endlichkeit. diaphanes: Zürich-Berlin 2008, 2. Aufl. 2013.